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Record Store Day 2016 – Drei Wahrheiten über Vinyl

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Record Store Day 2016, RSD16

Als Vollnerd hat man’s nie einfach. Jetzt steht auch noch der Record Store Day unter Beschuss. Rauben doch die Plattensammler den  aufrechten Dubstep-Produzenten die wertvollen Vinyl-Kapazitäten in den noch 1,5 funktionierenden Presswerken auf der Welt. Einer Kunst übrigens, die nur noch von einem 105-jährigen Japaner und einem bibeltreuem Maisbauern in Oklahoma beherrscht wird. Aram Lintzel verortete den Record Store Day in ein  Connaisseur-Kontinuum, vergleichbar mit abgehangener Wildschweinsalami. Aber es gibt noch mehr an unserem Bild zu korrigieren – Wir müssen reden liebe Plattenfreunde –

Vorurteil 1 – Schallplatten gibt es nur von den Guten

O.K. das war der Azubi besoffen, aber mit sowas musste man im Goldnen Vinylzeitalter rechnen

O.K. da war der Azubi besoffen, aber mit sowas war im Goldenen Vinylzeitalter durchaus zu rechnen

Einen Zahn muß ich den Plattenfreunden von 2016 leider ziehen. LPs waren nicht immer die 180g schweren erdölfressenden Tonträger für Connaisseure mit ihren Connaisseur-Plattenspielern, auf denen ausgesuchte Stars ihre Exclusiv-Tracks veröffentlicht haben. Oder diese kleinen, putzigen 7“ Picture Sleeves fürs Wohnzimmerregal, die man beim Record Store Day bekommt. Neeein, früher wurde jeder Dreck auf Vinyl gepresst, strange Typen mit seltsam ondulierten und lockengefönte Haaren. Marketingprodukte  ohne jedes Talent, deren Plattencover, vom Azubi der Dorf Werbeagentur designet wurden. Auch die Wegwerfartikel die  heutzutage mit  einer 60er Bitrate via Spotify vom Smartphone gestreamt werden gab es auf richtigem Vinyl.


Vorurteil 2 – Schallplatten sind was für Sammler und Nerds

Formschön und praktische um das Staubfängerzeug unterzubringen

In diesem praktischen Teil fand das Staubfängerzeug immer seinen Platz.

Platten hatten ihren Platz nicht in der Nerd-Corner sondern im Wohnzimmerschrankwand oder Studentenbudenbücherregal. Dies diente einer eindeutig sozialen Komponente, nämlich den Besitzer der Sammlung in den Tiefen seines Charakters kennen zu lernen.  Wie das funktioniert? Hier einige Beispiele.

Der Keine-Platten-Besitzer. Meistens ein Blödmann oder Nazi. Fehlende Platten konnten höchstens durch sehr gute Bücher kompensiert werden.  Fehlten auch die, war jegliche soziale Interaktion von vornherein ausgeschlossen.

Fand man  Joan Armatrading, Joni Michtell und Suzan Vega Platten in einer Wohnung gehörte diese zu 95% einer Frau. Bei dieser Musikpräferenz drohten lange einfühlsame Gespräche, Kuschelsex und  postcoitale lange noch einfühlsamere Gespräche. Befand sich zusätzlich Keith Jarretts  „Köln Concert“ im selbstgebauten Plattenregal hatte man es mit einer angehenden Sozpäd Bindestrichfrau zu tun.

Phil Collins, Coldplay, Alan Parsons, Red Hot Cilli Peppers ist die Klassik-Combo für  orientierungslose Langweiler, die einfach schamlos zu ihrem schlechten Geschmack stehen, gern Sport treiben und ansonsten für alles auch Musicals offen sind.  Das Zeug überschwemmt mittlerweise sämtliche Flohmärkte der Republik.

Wenn  die Plattensammlung nur bis zu einer bestimmten Epoche reicht z.B. Neue Deutsche Welle,  Nirvana/ Metallica, oder Deutsch Hip Hop,  fällt das meistens mit dem Geburtsdatum des ersten Kindes zusammen.  Die Besitzer haben beschlossen nun erwachsen zu sein oder sind mit dem Leben komplett überfordert, so dass sie zu „gar nichts mehr“ kommen, nirgends „mehr durchblicken“ und ansonsten der Meinung sind, dass die Welt außerhals ihrer eigenen zum Stillstand gekommen ist. Die Platten landen im Keller und werden während der Midlifecrisis gern wieder ausgegraben und unter Alkoholkonsum genossen..

Umfangreiche aber einseitige Sammlung, z.B. Metall, Deutschrock o.ä.  Je ja Korrellation mit dem eigenen Geschmack können sich interessante Fachgespräche entwickeln oder Ohren blutig abgeknabert werden. Aber das hat ja jeder selbst in der Hand.

Rolling Stones Platten flankiert mit Bruce Springsteen Zubehör. Hier ist dein Gegenüber ein freundlich entspannter älterer Rolling-Stone Leser und Freund der traditionellen Rockmusik. Milde belächelt er sämtliche musikalische Entwicklungen nach 1976 und ist ansonsten ein angenehmer Zeitgenosse, der gern mal einen guten Rotwein anbietet und auch bei heißen Themen wIe „Energiewende“ mitzureden weiss.

Jetzt bitte melden, wer als Gesprächseinleitung zuerst die Playlists fremder Smartphones durchwühlt.


 

Vorurteil 3 – Schallplatten gab es immer schon es nur beim Record Store Day und in Second Hand Läden..

Record Store Day, Peter Maffay

Record Store Day 1972: Peter Maffay im legendären Musik Müller.

Für Schallplatten galt noch Anfang der Siebziger die gesetzliche Preisbindung. Eine Platte für 19,90 DM würde nach heutiger Kaufkraft ca. 32 Euro kosten. Damit konnte also richtig GELD verdient werden. In meiner Nachbarschaft gab es einen Elektrohändler, in einer Garage, bei dem ich ab und an vorbeischaute. Auch der führte ein kleines Sortiment zwischen Roger Whittaker und Richard Clayderman ( kein Garagenrock wie vermutet werden könnte) und versorgte den Stadteil Saurenwasen mit einem  kulturellen Grundrauschen. Ansonsten war die erste Adresse in VS das wohlsortierte Fachgeschäft „Musik-Müller“. Dort war das unangenehme Probehören angesagt.  Das ging nämlich leider nicht via Barcode sondern nur analog von Mensch zu Mensch. Die Platte aus dem Regal ziehen, fragen ob man da mal reinhören könnte und dann unter den Argusaugen der Plattenverkäufer probehören. dabei ca. alle 2 Minuten Augenkontakt suchen „Können Sie mal das nächste Lied?“ – „Äh, können Sie bitte umdrehen, danke“ Und irgendwann, musstest Du dem Fachplattenverkäufer erläutern „Öh, äh,  die nehme ich doch nicht“ und hoffen, daß er nicht fragte warum und eine womöglich eine dezidierte Kritik erwartete. Die Altervative war sich einfach rauszuschleichen, wenn keiner hinschaute. Im zarten Alter von 11 Jahren habe ich mich mal im Musik Müller unter Kopfhöreren mit Kraftwerks „Radioaktivität“ wiedergefunden. Und ich muß sagen, es war kein Erweckungserlebnis, mit einem schweren vorpubertären Trauma bin ich nachhausgeradelt um mir dreimal hintereinander meine Leib-und-Magenplatte  „ABBAs 16 Hits“ anzuhören.

Ich könnte jetzt noch endlos weitermachen, z.B. damit dass es früher keinen Downloadcode gab und man die Dinger ohne zu skippen komplett anhören musste. Oder dass Importplatten immer erst nach einem gefühlten Jahr…

….oder vielleicht sollte ich mal wieder meinen Plattenspieler von der Reparatur holen.

Der Beitrag Record Store Day 2016 – Drei Wahrheiten über Vinyl erschien zuerst auf Plaste.


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